Neurowissenschaften und die Religion

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Christa Dorner verglich mystische Erfahrungen mit dem Wissen über neuronale Prozesse: Religion und Naturwissenschaft schließen sich nicht aus. Derzeit floriert die „Neurotheologie“.

„Man muss zwischen Esoterik und Wissenschaft gut unterscheiden. Auch wenn Esoterik boomt, ging es mir um die Wissenschaft“, sagt Christa Dorner. Sie hat nach ihrer Tätigkeit als Mathematik- und Musiklehrerin noch ein Studium begonnen und soeben ihre Dissertation über interkulturelle Mystik und Gehirnforschung abgeschlossen (Uni Graz, Institut für Philosophie, Betreuer: Anton Grabner-Haider). „Mystik und mystische Bilder haben mich ein Leben lang begleitet“, sagt Dorner. Nun wollte sie wissen, woher solche Bilder kommen und wie mystische Bilder die Religionen der Welt beeinflussen – vonseiten der Neurowissenschaft betrachtet. Derzeit floriert die „Neurotheologie“, die Verbindungen zwischen biologischen Gehirnvorgängen und Glaubensinhalten verschiedener Religionen erforscht. „Alle Inhalte der Religionen entstehen im Gehirn, und ich möchte mystische Erfahrungen stärker dem rationalen Diskurs zugänglich machen.“ Religion und Naturwissenschaft arbeiten „mit unterschiedlichen Sprachspielen“ und kämen sich nicht in die Quere, wenn „sie mit gewissem Abstand verschiedene Arbeitsbereiche beanspruchen“.

Während die Wissenschaft die kausalen Zusammenhänge sucht, ergänzt die Religion die Frage nach Zielen und Bedeutungen der Mystik. In ihrer Recherche zeigte Dorner die Zusammenhänge zwischen mystischen Erlebnissen und dem, was im Gehirn passiert: „Religiös gedeutete Erlebnisse können beim Meditieren oder auch bei Temporallappen-Epilepsie oder durch elektromagnetische Reizungen hervorgerufen werden: Das sind zwar Hinweise, aber zeigt keine Kausalität.“ Besondere Bedeutung kommt – gemessen bei buddhistischen und christlichen Meditierenden – dem „visuellen Assoziationszentrum“ im Gehirn zu, wo „sinnhafte Deutungen der Wahrnehmungen des Gehirns“ passieren. „Die dabei entstehenden Bilder sind kulturgeprägt, ebenso wie die Bilder, die Nah-Tod-Erfahrungen begleiten“, so Dorner. Weitere für spirituelle Erfahrungen wichtige Assoziationsfelder, wo im Gehirn sensorische Informationen zusammenlaufen, sind das Orientierungsfeld, das Aufmerksamkeitsfeld und das Assoziationsfeld für sprachliche Begriffe. „Jedenfalls sind mystische Erfahrungen nicht einfach Erkrankungen der neuronalen Prozesse“, ist Dorner, deren Dissertation im Herbst als Buch erscheint, überzeugt. „Aber es gibt noch wissenschaftlich undefinierbare Dimensionen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2011)

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