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Wie Patienten mit virtueller Realität zurück ins Leben finden

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Eine Schlaganfallpatientin trainiert mit Rehago.
Eine Schlaganfallpatientin trainiert mit Rehago. © Rehub

Der Arm gelähmt, vielleicht sogar eine ganze Körperhälfte, und dann? Das Reutlinger Start-up Rehub hilft Schlaganfall-Patienten mit virtueller Realität zurück ins Leben.

Virtual Reality ist eine nette Spielerei. Aber können künstliche Welten Menschen zurück ins Leben helfen? Ja, sagt Anika Ochsenfahrt. Die 27-Jährige arbeitet bei Rehub. Das Start-up aus Reutlingen will Menschen helfen, wieder gesund zu werden. Und zwar mit der App Rehago für Virtual-Reality-Brillen.

Rehub spricht vor allem Schlaganfallpatienten mit Lähmungen an – also Menschen, die einen Arm oder eine Körperhälfte nicht bewegen können. „Momentan leiden sie oft unter einem Mangel an Versorgung und adäquaten Übungen“, sagt Ochsenfahrt, die Mitgründerin und Chief Operating Officer des Start-ups ist.

Therapien gegen Lähmungen gibt es genug, zum Beispiel die sogenannte Spiegeltherapie. Dabei wird ein Spiegel vor dem Körper positioniert. Der gelähmte Arm ist verdeckt, stattdessen zeigt das Spiegelbild den gesunden Arm. Der gesunde Arm greift nach einer Tasse und es scheint, als greife auch der gelähmte Arm nach einer Tasse; als könnte der Patient wieder beide Arme bewegen. Diese Illusion unterstützt die Heilung des gelähmten Arms: In beschädigten Bereichen des Gehirns werden neue Verbindungen aufgebaut.

Rehub: Mit VR-Brille gegen Schlaganfall-Lähmungen

Ochsenfahrt und ihre Kollegen machen sich das zu Nutze: Statt eines herkömmlichen Spiegels setzen sie Virtual-Reality-Brillen ein. Die Idee: Die Schlaganfall-Patientin zieht sich die VR-Brille auf und sieht, wie sich ihr Arm bewegt – zum Beispiel beim Balancieren einer Kugel im Holzlabyrinth. Der Spiegel wird also digitalisiert; die Patientin muss die Wohnung nicht verlassen, sondern kann die Therapie-Spiele zu Hause im Lieblingssessel absolvieren.

Zur Zeit entwickelt das Team um Anika Ochsenfahrt eine entsprechende Therapeuten-App. Als digitale Patientenakte soll die Anwendung dem Therapeuten die Fortschritte der Patienten zeigen. Auf seinem Smartphone oder Tablet überwacht der Therapeut die Trainingsprogramme oder bestimmt den Schwierigkeitsgrad.

Das langfristige Ziel von Ochsenfahrt und ihren Kollegen: eine Rundumversorgung mit Therapiesoftware. „Wir wollen der Playstore für Virtual Reality in der Medizin sein“, beschreibt Ochsenfahrt die Mission des Start-ups.

Start-up Mindmaze ist in vielen Krankenhäusern

Rehub ist nicht das einzige Unternehmen, das bei Therapien auf virtuelle Realitäten setzt: Auch XR Health arbeitet mit VR-Brillen. Das Unternehmen mit Büros in Boston und Tel Aviv wertet Patientendaten nach eigenen Angaben mit künstlicher Intelligenz aus.

Bereits in Europa aktiv ist Mindmaze. Schon 2016 wurde das Start-up mit einer Milliarde Dollar bewertet. Inzwischen hat Mindmaze den Weg in viele asiatische und europäische Krankenhäuser gefunden.

Anders als Rehub setzt das Schweizer Unternehmen aber nicht auf VR-Brillen. Mindmaze funktioniert ähnlich wie die Spielekonsole Wii: Kameras filmen die Bewegung des gesunden Arms und spiegeln sie auf einem Bildschirm in virtuellen Umgebungen.

Rehago-Nutzer zahlen monatlich wie für Netflix

Für die Rehub-Software zahlen Nutzer wie für Netflix oder Amazon Prime: Das Halbjahresabo kostet 30 Euro pro Monat, künftig sollen es 50 Euro sein. Wer keine VR-Brille hat, muss auch sie kaufen: Für verschiedene Modelle verlangt Rehub zwischen 230 und 559 Euro. Die optionale Einrichtung kostet 45 Euro. Viel Geld, das die Krankenkassen nicht übernehmen. „Noch nicht“, sagt Ochsenfahrt. Die Mitgründerin hofft, dass sich das bald ändern wird: „Wir wollen in das Digitale-Versorgung-Gesetz als Medizinprodukt der Klasse 1.“

Lesen Sie auch: Wie das Startup Selfapy Menschen mit psychischen Problemen helfen will

Rehub wurde 2018 als Ausgliederung der Hochschule Reutlingen gegründet. Zur Zeit nutzen knapp 25 Menschen die App des jungen Start-ups. Bis Ende 2020 sollen es 150 sein. Dann will Rehub 400 000 Euro Jahresumsatz machen.

Ein ambitioniertes Ziel. Aber erreichbar, wie Anika Ochsenfahrt und ihre Kollegen hoffen. Denn es gibt positives Feedback: Im vergangenen November zeichnete die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis das Rehub-Team mit dem „Next Economy Award“ aus. Nicht der erste Preis für das Start-up: Zuvor gewann Rehub unter anderem 50 000 Euro in einem Wettbewerb des Technologiekonzerns Samsung.

Virtuelle Realität: Wissenschaftler warnen vor leichtfertigem Einsatz

Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) teilt mit, dass sie den Einsatz digitaler Helfer nach einem Schlaganfall grundsätzlich befürwortet – sofern sie bestimmten Qualitätskriterien entsprechen. „Wenn Apps in der Schlaganfalltherapie eingesetzt werden, dann müssen sie einfach zu handhaben sein und zugleich einen hohen Nutzen haben“, sagt Wolf-Rüdiger Schäbitz, Pressesprecher der DSG und Chefarzt der Klinik für Neurologie am Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld.

Doch es gibt auch kritische Stimmen: In der Zeitschrift Nature warnte im vergangenen Juli eine Gruppe Freiburger Wissenschaftler vor einem leichtfertigen Einsatz virtueller Realität in der Medizin. Die Technologie biete faszinierende therapeutische Möglichkeiten, so die Forscher. Allerdings seien die emotionalen und kognitiven Wirkungen von Virtual Reality bisher kaum untersucht. Die Forderung der Freiburger Wissenschaftler: Die Entwicklung und die Nutzung von VR sollten von ethischen Prioritäten geleitet werden, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientieren.

Für Rehub stehen in den kommenden Monaten große Veränderungen an: Mehr Mitarbeiter, der Launch der Therapeuten-App und ein Umzug nach Leipzig. Zur Zeit sucht das Team um Ochsenfahrt nach Investoren – mit Erfolg. Der Technologiegründerfonds Sachsen steuert 600 000 Euro bei. Geht es nach Anika Ochsenfahrt, soll es nicht die letzte Geldspritze bleiben.

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