Mental Health

Depressionen durch Social Media? Was die Jagd nach Likes mit unserer kollektiven Psyche macht

VOGUE stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die zunehmende Social-Media-Sucht des vergangenen Jahrzehnts auf unsere Psyche hat.
Depressionen durch Social Media Was die Jagd nach Likes mit unserer kollektiven Psyche macht
Peter Ash Lee / © ArtPartner

Depressionen durch Social Media

Jedes soziale Netzwerk meint es zunächst gut. Twitter war ein Ort für Eilmeldungen und progressive Ansichten. Bei Facebook wurden private Fotos und Updates mit Freunden und Familie geteilt. Bei Instagram ging es am Anfang nicht um Individuen; im Fokus standen Kunst, Style und Fotografie. Auch wenn jede dieser Plattformen noch Aspekte aus der Anfangszeit beibehalten hat, zeigt das vergangene Social-Media-Jahrzehnt auch deutlich seine düsteren Seiten. Twitter kann sich vor Hassparolen und Konflikten kaum noch retten. Facebooks Datenschutzrichtlinien stehen immer wieder zur Diskussion, wurden doch unsere Daten an Unternehmen und politische Parteien verkauft. Instagram wurde wiederholt zur schlechtesten App für die Psyche junger Menschen gewählt – aufgrund der unrealistischen Darstellung von Schönheit und Erfolg, begünstigt von bezahlten Influencern, aber genauso von der Mehrheit der Nutzer, die anderen gegenüber ihr "bestes Ich" präsentieren wollen.

Es gibt große Kohortenstudien über die Auswirkungen von sozialen Medien auf junge Menschen, so auch eine Studie von JAMA Psychiatry mit 6600 Jugendlichen aus den USA. Aus der Studie geht hervor, dass Jugendliche, die mehr als drei Stunden am Tag mit Social Media verbringen, anfälliger für Angststörungen und Depressionen sind. In einer von Elsevier veröffentlichten Studie mit 16 000 Jugendlichen aus China konnte ebenfalls ein Zusammenhang zwischen mehr Zeit am Bildschirm und Depressionen hergestellt werden. Laut der Autoren stellten die erhobenen Daten "ein signifikantes Risiko für die öffentliche Gesundheit" dar. Bei einer Umfrage im Vereinigten Königreich gaben 61 Prozent der Mädchen zwischen 11 und 21 Jahren an, sie hätten das Gefühl, "perfekt" aussehen zu müssen (Girl’s Attitudes Survey). Die meisten dieser Studien verraten uns aber nur, was wir schon wissen und was wir an uns selbst feststellen. Es ist schwierig, an quantitative Daten zu gelangen, die sich genau damit beschäftigen, wie soziale Medien unser Verhalten beeinflussen, weil die Technologien so neu sind und sich kontinuierlich weiterentwickeln. Einige grobe Muster, die unsere Generationserfahrung ausmachen, lassen sich jedoch bereits erkennen.

Diese Erkenntnisse können wir aus unserer Social-Media-Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts ziehen:

1. Wir werden zu viel stimuliert, und das beeinträchtigt unsere Aufmerksamkeitsspanne

Wer kennt noch das Gefühl der Langeweile? Beim Warten in der Schlange? Im Wartezimmer beim Zahnarzt? Langweilig ist uns heute eigentlich nur noch, wenn der Handyakku alle und kein Ladegerät in Sicht ist. Den meisten als Gefühl der Panik bekannt.
 In den letzten 20 Jahren ist die menschliche Aufmerksamkeitsspanne auf acht Sekunden gesunken, das ist weniger als bei einem Goldfisch. Konstante Benachrichtigungen, endloses Scrollen, automatisches Abspielen von Videos und hübsche, bunte Apps beeinträchtigen unsere Konzentrationsfähigkeit immens.
 "Es gibt Indizien, dass es allein ein Handy in der Nähe schwierig macht, sich zu konzentrieren, auch wenn das Handy nicht aktiv genutzt wird", weiß Erin Vogel, Sozialpsychologin aus San Francisco.
 Wie Ex-Designethiker von Google und Silicon-Valley-Rebell Tristan Harris in seinem TED Talk zum Thema "Wie eine Handvoll Tech-Firmen täglich eine Milliarde Köpfe kontrolliert" erklärt, seien soziale Medien psychologisch so designt worden, dass wir immer wieder zu ihnen zurückkommen wollen. Apps stünden miteinander im Wettbewerb um die Zeit der Konsumenten, was auch als "Aufmerksamkeitsökonomie" bezeichnet wird. Und das Haus gewinnt immer.
 "Meine Aufmerksamkeitsspanne ist hinüber", sagt Social-Media-Spezialistin Natasha Slee, die Social-Media-Strategien und Content für Medienmarken erstellt. "Das Poster von Douglas Coupland mit der Aufschrift 'Ich vermisse mein Vor-Internet-Gehirn' ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Ich vermisse, was ich früher zwischendurch erledigt habe, bevor ich den Reflex hatte, nach meinem Handy zu greifen und zu scrollen. Der passive Content-Konsum auf dem Handy raubt Zeit; Zeit, die wir früher damit verbracht haben, uns auf unsere Umgebung einzulassen und uns offline zu unterhalten. Ich frage mich oft, wie es ohne wäre: Wäre ich schlauer? Wäre meine Beziehung besser? Wäre ich fitter? Kultivierter?"

2. Wir neigen zur Selbstobjektivierung – unseres Aussehens und unseres Lebens

Nicht nur urteilen wir basierend auf Bildern über andere, entscheiden, wem wir folgen, nicht mehr folgen, liken, ignorieren, wir haben uns auch angewöhnt, uns selbst von außen zu beurteilen. Wirken wir erfolgreich? Sozial? Attraktiv? Verdienen wir ein "Gefällt mir"? Wir identifizieren die Aspekte, die sich am besten verkaufen lassen, und preisen sie in sozialen Netzwerken auf eine Art und Weise an, die früheren Generationen ausgesprochen unnatürlich vorgekommen wäre. "Instagram hat uns zu Minimarken und visuellen Tagebuchverfassern unserer eigenen Leben gemacht", merkt Slee an.
 Sich selbst so zu sehen, wie andere uns sehen, und sich so zu beurteilen, wie andere uns beurteilen, wird auch als Selbstobjektivierung bezeichnet. Psychologin Dr. Helen Sharpe, die sich auf die mentale Gesundheit von Jugendlichen spezialisiert hat, erklärt: "Selbstobjektivierung kommt von Objektivierung, wenn der Wert als Individuum ausschließlich auf dem Körper basiert. Wenn Ihnen bewusst ist, dass Ihr Wert auf Ihrem physischen Körper basiert, setzen Sie sich der Überwachung anderer aus. Andere sehen Sie an, um auszumachen, was Sie wert sind. Mit der Zeit verinnerlichen wir diese Erfahrung, dann überwachen Sie sich selbst und achten konstant darauf, dass Sie so 'wertvoll' wie möglich erscheinen. Das passt perfekt zum Social-Media-Konzept, zu der Idee, nur eine Version von sich zu präsentieren."

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3. Wir haben die gleichen Träume und wollen das Gleiche

Social Media vermittelt eine enge Sichtweise davon, was ein erfolgreiches Leben darstellt. Da werden visuelle Lifestyles zelebriert, Outfits auf Instagram-Tauglichkeit überprüft und glamouröse Karrieren präsentiert.

Kein Bürojob eignet sich für Instagram, genauso wenig wie die Arbeit im Krankenhaus oder in der Schule. Und die Hoffnungen der nächsten Generation bestätigen die befürchteten Folgen. "Social-Media-Influencer" und "YouTuber" waren die zweit- und dritthäufigsten Antworten auf die Frage: "Was willst du werden, wenn du groß bist?", die das Affiliate-Marketing-Network AWIN einer Gruppe 11- bis 16-jähriger Briten und Britinnen stellte.

Der Indian Kids Digital Insights Study 2019 zufolge bitten 73 Prozent der Kinder, die soziale Medien nutzen, ihre Eltern, ihnen Produkte zu kaufen, für die Kinder-Influencer Werbung gemacht haben. Und in einem ausführlichen Artikel auf der Website von Channel News Asia beschreibt eine Mutter aus Singapur, wie ihr fünfjähriges Kind vor dem Spiegel eine/n VloggerIn mit den Worten imitiert: "Hier zum Abonnieren klicken. Hier für mehr Infos klicken."

Nicht alle können supererfolgreiche Influencer, YouTuber und #GirlBosses werden. All die Sprüche auf Social Media, die uns dazu ermuntern, das Beste aus uns herauszuholen und unsere Träume zu verwirklichen, mögen motivierend sein, gleichzeitig erzeugen sie einen enormen Druck hervorzustechen, vor allem in einem digital anerkannten Beruf.

4. Gut ist: Wir haben unsere kollektive Stimme gefunden

Positiv lässt sich sagen, dass Social Media uns eine Stimme gegeben hat. Wir haben die Macht der Menge erkannt und nun die Möglichkeit, uns mit anderen zusammenzutun. Einerseits, um weniger allein zu sein, andererseits, um Veränderungen zu bewirken.

"Die internationale Community schwarzer Frauen aktiv bei Instagram zu sehen, hat meine Existenz auf eine Weise validiert, die ich ohne die permanenten Erinnerungen auf Social Media von Frauen, die ich bewundere, nie für möglich gehalten hätte", so Lynette Nylander, Beraterin für kreative und redaktionelle Inhalte.

Da sind die LGBTQ+-Community, die Body-Positivity-Bewegung und #MeToo: Social Media hat ein Gefühl der Einheit und kollektiver Macht erzeugt. Es erlaubt uns, einander Neues beizubringen und füreinander einzustehen. So ist ein neues Gemeinschaftsgefühl entstanden, zum Schweigen gebrachten Menschen wurde eine Stimme gegeben.

Und wohin geht die Reise?

Millennials und Angehörige der Generation Z waren die Versuchskaninchen der sozialen Medien. Seit dem vergangenen Jahr jedoch wendet sich das Blatt. Die Zahl der sich lautstark äußernden Silicon-Valley-Rebellen wächst. Facebook und Instagram machen endlich Fortschritte mit Experimenten wie das Entfernen sichtbarer Likes. Immer mehr Influencer verfassen Posts und Artikel, in denen sie den Schleier ihrer "perfekten" Leben lüften.

"Irgendwann betrachtete ich mein öffentliches Ich als das echte. Und ich versteckte jegliche Tendenzen, die meine Gefälligkeit infrage stellen konnten, bis ich vergaß, dass es sie gab", schreibt Tavi Gevinson in einem bei The Cut veröffentlichten Selbstexposé mit dem Titel "Who Would I Be Without Instagram?".

Während wir realisieren, dass das traumhafte Leben, das Social Media uns vorgelebt hat, vielleicht doch nicht ganz so traumhaft ist, besinnen wir uns langsam wieder darauf, was wir als frei denkende Individuen wollen – im Gegensatz zu contentabhängigen Konsumenten. 
Vogel ist voller Hoffnung. "In Maßen sind soziale Medien für die meisten Nutzer eher hilfreich als schädlich. Ich glaube nicht, dass die Erfahrung immer nur positiv ist, aber es gibt Vorteile." Sie merkt aber auch an, dass noch mehr geforscht werden muss, "um herauszufinden, wann Social Media schädlich und wann völlig harmlos (oder sogar hilfreich) ist".

Slee sagt, sie sähe "mit der nächsten Generation nur eine Fortentwicklung. Soziale Medien sind auch über die Apps auf unseren Handys hinaus so fest in unserer Kultur verankert, dass sie im nächsten Jahrzehnt wohl nicht von der Bildfläche verschwinden werden." Sie hofft jedoch, dass die Plattformen Verantwortung für das Suchtpotenzial ihrer Designs übernehmen.

Die 2010er-Jahre waren eine Testphase. Wenn die Technologie hinter Social Media ein Gewissen entwickeln kann, gegebenenfalls auch mit künstlicher Intelligenz, und wenn die Konsumenten selbst ebenfalls Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Selbstvermarktung und gemeinen Tweets über andere übernehmen, dann könnten die kommenden zehn Jahre ein Jahrzehnt der rasanten sozialen Reformen werden. Wenn, wenn, wenn.

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