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Kultur Europas Religion

Die Zukunft des Glaubens

Aber Europa und die Welt sind auf Menschen angewiesen, sagt Tomas Harlik, die dem Wort Liebe jene tiefe Bedeutung wiedergeben, die es einmal in der radikalen Botschaft des Evangeliums hatte Aber Europa und die Welt sind auf Menschen angewiesen, sagt Tomas Harlik, die dem Wort Liebe jene tiefe Bedeutung wiedergeben, die es einmal in der radikalen Botschaft des Evangeliums hatte
Aber Europa und die Welt sind auf Menschen angewiesen, sagt Tomas Harlik, die dem Wort Liebe jene tiefe Bedeutung wiedergeben, die es einmal in der radikalen Botschaft des Evangeli...ums hatte
Quelle: picture alliance / Bildagentur online
Die Behauptung, Europa sei ein christlicher Kontinent, empört viele Menschen. Dabei könnte uns Religion dabei helfen, die Nöte der Globalisierung wenigstens ein bisschen zu lindern. Ein Plädoyer.

Die Religion stirbt nicht, sondern verändert sich. Es entstehen nicht nur „neue Religionen“ und neue religiöse Bewegungen, sondern die alten Religionen verändern sich auch und nehmen neue politische und kulturelle Rollen an. Aber wo steht unser westliches Christentum heute, welche Form nimmt es an, was ist seine Vision für die Zukunft?

Ich bin nicht davon überrascht, dass Behauptungen der Art, Großbritannien sei ein christliches Land oder Europa ein christlicher Kontinent, Aufregung verursachen. Zum einen werden sie von vielen historischen und soziologischen Argumenten gestützt. Letztlich ist der säkulare Charakter der Gesellschaft selbst eine Frucht des Christentums, und in einem gewissen Sinn ist sogar der europäische Atheismus ein christliches Phänomen.

Andererseits müssen Behauptungen wie „Großbritannien ist ein christliches Land“ oder „Europa ist ein christlicher Kontinent“ die Frage provozieren: Was meinst du damit? Und welche Schlussfolgerungen ziehst du daraus? Welche Form des Christentums könnte dazu beitragen, dass unsere Welt zu einem besseren Ort für das Leben aller wird – sowohl für Christen als auch Nichtchristen, Gläubige und Atheisten?

Religiöse Symbole können Quelle von Gewalt werden

Wir haben gesehen, wie die Macht religiöser Symbole zu einer zerstörerischen Kraft und einer Quelle von Gewalt werden kann, wenn sie mit politischen Interessen verbunden ist. Deswegen müssen wir uns fragen: Wie kann die Macht des Glaubens dazu beitragen, eine Kultur des gegenseitigen Respekts zu erschaffen, eine Zivilisation, in der Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden? Welche Fortschritte sollte die Religion machen, damit wir in den Genuss einer Kultur des Teilens kommen – statt Furcht vor dem Kampf der Kulturen haben zu müssen? Was können Religionen (und besonders das Christentum) zur Gestaltung des Globalisierungsprozesses beitragen, dass er zu einer Kultur der Kommunikation wird?

Heute schauen nicht nur die Länder Mittel- und Osteuropas mit großer Sorge auf die Versuche der Kremlherrscher, das alte Sowjetimperium wieder zu errichten, das in Kombination eines altmodischen russischen Imperialismus mit der Doktrin des „wissenschaftlichen Atheismus“ beherrscht worden war. Zwar ist die Ideologie des „wissenschaftlichen Atheismus“ in Russland schon vor langer Zeit gestorben, aber der alte russische Nationalismus und die imperialen Träume sind immer noch sehr lebendig.

Als während des Zweiten Weltkriegs Stalin, einer der grausamsten Verfolger des Glaubens in der Menschheitsgeschichte, erkannte, dass das russische Volk nicht bereit war, für die kommunistische Ideologie des „wissenschaftlichen Atheismus“ zu sterben, versuchte er, zur Rettung seines Reichs die orthodoxe Religion und den russischen Patriotismus einzuspannen. In dem Spektakel, dem wir nun beiwohnen, küssen ehemalige KGB-Agenten Ikonen von Christus und der Mutter Gottes. Werden die Führer der russisch-orthodoxen Kirche die moralische Standfestigkeit haben, den gegenwärtigen Herrschern im Kreml zu sagen: Ihr müsst aus euren Köpfen und Herzen erst die bösen Geister von Dostojewskis „Dämonen“ verjagen, ehe ihr eure Gaben im Haus Gottes darbringen dürft?

Was geschieht mit einer Gesellschaft ohne spirituelle Wurzeln?

Angesichts der gefährlichen Entwicklungen in Osteuropa müssen wir uns unserer Verantwortung bewusst sein, das große Projekt eines geeinten Europas zu bewahren und auszubauen. Die starke politische Integration von Europa ist für die europäischen Nationen der einzige Schutz – nicht nur gegen äußere Gefahren, sondern mehr noch gegen eine Explosion der Barbarei im Inneren, gegen den extremen Nationalismus, den Chauvinismus und die Fremdenfeindlichkeit, die in den Ländern Europas einmal mehr ihre hässlichen Fratzen erheben.

Wenn das gemeinsame europäische Heim ein wirkliches Zuhause werden soll, kann es nicht alleine auf den Säulen von Verwaltung und Handel stehen. Bei der Erschaffung einer spirituellen und moralischen Biosphäre der Gesellschaft fällt der Kultur eine entscheidende Rolle zu. Das kommunistische System, das die Kultur durch Ideologie kontrollierte, konnte im freien Weltmarkt der Ideen nicht überleben. Aber was wird einer Gesellschaft widerfahren, deren Kultur ihre spirituelle Dimension verloren hat und von der kommerziellen Unterhaltungsindustrie beherrscht wird?

Eine wichtige Rolle bei der Entstehung Europas spielte die Fähigkeit der Kirchen, eine Kultur zu erschaffen, die die Botschaft der Bibel mit der philosophischen Weisheit Griechenlands und dem Rechtssystem Roms verband. Aber diese Form des Christentums – Christianitas, „Christenheit“ – gehört der Vergangenheit an. Das Christentum ist nicht mehr die gemeinsame Sprache der Europäer, deren Zukunft sogar noch vielstimmiger sein wird, als Europa immer schon gewesen ist. Das Christentum von heute ist nur eine unter vielen Stimmen.

Welche Stimme trägt mehr zur Kultur der Koexistenz bei?

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Lassen Sie uns nicht fragen, wessen Stimme im Europa von morgen stärker sein wird, sondern stattdessen, wessen Stimme mehr zu einer Kultur der Koexistenz beitragen wird, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis beruht.

Die zentrale Botschaft des Christentums lautet, dass Gott Liebe ist und dass der dreifaltige Gott selbst eine Gemeinschaft des Teilens darstellt. Nun ist der Glaube an einen Gott, der Liebe und eine Gemeinschaft des Teilens verkörpert, keine wissenschaftliche Hypothese, sondern eine moralische Festlegung mit offensichtlichen kulturellen und politischen Implikationen. Es ist die Festlegung, die Pluralität unserer Welt zu akzeptieren und sich beständig darum zu bemühen, sie in eine Kultur der Kommunikation, des Teilens und der wechselseitigen Bereicherung zu überführen.

Das Christentum ist nicht darauf angewiesen, eine Flagge zu sein, die über Europa weht. Aber Europa und die Welt sind auf Menschen angewiesen, die dem Wort Liebe jene tiefe Bedeutung wiedergeben, die es einmal in der radikalen Botschaft des Evangeliums hatte.

Die christliche Kultur ermöglichte die Idee der Toleranz

Unsere westliche christliche Kultur und deren wichtige historische Phase der Aufklärung ermöglichten die große Idee der Toleranz. Toleranz ist die weltliche Übersetzung der biblischen Forderung, sogar den eigenen Feind zu lieben. Doch sobald religiöse Begriffe in weltliche Sprache übersetzt werden, geht üblicherweise etwas verloren. Um einen unangenehmen Nachbarn zu tolerieren, muss man ihn nicht lieben. Es reicht, ihn zu ignorieren, weil er einem doch egal ist. Schließlich haben wir alle unser eigenes Leben, unseren eigenen Stil, unsere eigene Wahrheit.

Ein bestimmtes, auf dem Prinzip der Toleranz beruhendes Modell des „Multikulturalismus“ hat nicht Gemeinschaften von Bürgern oder Nachbarn geschaffen, sondern Konglomerate von Gettos. „Jeder soll leben, wie er will, solange er andere nicht stört oder einschränkt“ – das begründet bestimmt einen menschlicheren Umgang als ewige Streitereien oder gar permanenter Krieg, aber kann es sich dabei auch um eine nachhaltige Lösung handeln? Diese Art Toleranz reicht für Menschen, die nebeneinanderher leben, aber nicht für Menschen, die miteinander leben.

Unsere Welt, das „globale Dorf“, ist viel zu eng geworden, als dass wir noch ungestört nebeneinanderher leben könnten. Wir sind mehr geworden, und ob wir es mögen oder nicht, es gibt immer mehr Menschen, die „anders“ als wir sind. Unsere Zäune sind nicht mehr so weit voneinander entfernt, wie sie es einmal waren. Wir sehen in die Küchen der Fremden und können den Geruch ihrer exotischen Suppen riechen, und wir können Familienstreitereien nicht mehr ignorieren, von deren Existenz wir lange keine Ahnung hatten.

Wir müssen für die Koexistenz Regeln finden

Das Toleranzmodell ist für eine andere Welt, eine Stadt mit einer anderen Architektur gemacht worden. Doch die Städte von einst stehen nicht mehr, oder sie sehen völlig anders aus. Wir leben miteinander, ob es uns gefällt oder nicht – und deswegen müssen wir für die Koexistenz Regeln finden, die etwas anderes besagen als bloß: Halt dich aus meinen Kreisen raus.

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Vor zweitausend Jahren wurde der Rabbi von Nazareth gefragt: Wer ist mein Nachbar? Diese Frage hat seitdem nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Jesus beantwortete sie auf erstaunliche Weise: Frage nicht, wer dein Nachbar ist, werde selbst zu einem! Suche die Nähe anderer, jener vor allem, die der Hilfe und der Liebe bedürfen. Weise jenen, die in ihrem eigenen Hass und ihrer Schuld gefangen sind, einen Weg in die Freiheit, in dem du Vergebung gewährst und die Bereitschaft zur Versöhnung spüren lässt.

Jesus Forderung nach bedingungsloser Liebe, einer Liebe selbst zu den eigenen Feinden, wirkt auf jene absurd, die in der Liebe nur ein Sentiment, eine Emotion sehen. Aber die Liebe ist etwas Größeres. Sie ist ein Raum von Sicherheit in unseren Herzen und in unseren Leben, den wir anderen öffnen, damit sie wahrhaftig sie selbst sein können. Nur in einem Raum von Liebe und Anerkennung können wir unsere innerste Wahrheit entdecken und das Beste entwickeln, das in uns ist. Doch die Liebe ist immer ein großer und riskanter Schritt. Wer liebt, läuft Gefahr, enttäuscht und verwundet zu werden.

Der christliche Glaube trägt Wunden. Wie unsere Welt

Erst an dieser Stelle kann ich die Frage nach der Zukunft des Glaubens beantworten. Der Glaube, dem ich mich verpflichtet fühle, trägt Wunden. Entscheidend für meinen christlichen Glauben ist eine bestimmte Szene im Johannes-Evangelium – die Begegnung zwischen dem Apostel Thomas und dem wiederauferstandenen Christus. Wie in den Herzen und Gedanken vieler Menschen der Gegenwart kämpft im Herzen von Thomas der Glaube mit dem Zweifel. Erst als ihm Jesus seine Wunden zeigt, ruft er: Mein Herr und mein Gott!

Unsere Welt ist voller Wunden. Ich bin davon überzeugt, dass jene, die ihre Augen vor ihnen verschließen, kein Recht haben, „Mein Herr und mein Gott“ zu sagen. Eine Religion, die das Unglück der Menschen und ihr Leid nicht zur Kenntnis nimmt, ist Opium des Volkes. Ein Gott ohne Wunden ist ein toter Gott. Wenn jemand mir seinen Gott anbietet, frage ich: Ist es der Gott der Liebe, vom Leiden unserer Welt versehrt? Ich bin nicht gewillt, an einen anderen Gott zu glauben.

Als Alexander Solschenizyn gefragt wurde, was nach dem Kommunismus käme, antwortet er: Eine sehr, sehr lange Zeit der Heilung. Meine Antwort auf die Frage, was jener Zeit folgen wird, in der es so viele Gläubige und Nichtgläubige für leicht hielten, über Gott zu reden, lautet: Ich erwarte eine sehr, sehr lange Reise in die Tiefen. Und ich setze meine Hoffnungen darauf.

A.d. Englischen v. Peter Praschl

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